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Blut verbindet alle

Gentherapie-Präparat Roctavian zugelassen

15.09.2022

Das erste Präparat zur Gentherapie bei schwerer Hämophilie A hat Zulassung in der EU erhalten.

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Die Europäische Kommission hat dem Gentherapeutikum Roctavian (Valoctocogen Roxaparvovec) der Firma BioMarin im August die Zulassung für die Behandlung der schweren Hämophilie A bei Erwachsenen ohne Hemmkörper erteilt (siehe unsere Meldung vom 11.07.2022).

Neu: In einem Update zu ihrer Gentherapie-Studie berichtet die Firma BioMarin im September 2022 von einem weiteren schwerwiegenden unerwünschten Ereignis (serious adverse event). Bei einem der Studienteilnehmer wurde Leukämie diagnostiziert.

Der Begriff schwerwiegendes unerwünschtes Ereignis wird verwendet, um das Auftreten eines schwerwiegenden Gesundheitsproblems in einer Studie zu beschreiben, unabhängig davon, ob die untersuchte Behandlung dieses Gesundheitsproblem verursacht hat oder nicht.

Untersuchungen dazu sind im Gange. Wie bei allen neuen Therapien gilt es, die Entwicklungen genau zu verfolgen.

Lesen Sie hierzu das Statement des European Haemophilia Consortiums (EHC).


Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) informiert über die Zulassung von Roctavian:

Ers­tes Gen­the­ra­peu­ti­kum ge­gen Hä­mo­phi­lie A er­hält Zu­las­sung

Der für die Bewertung von Gen-und Zelltherapien zuständige Ausschuss für neuartige Therapien (Committee for Advanced Therapies, CAT) bei der Europäischen Arzneimittelagentur (European Medicines Agency, EMA) hat am 17.06.2022 für das Gentherapeutikum Roctavian (Valoctocogene Roxaparvovec) des US-Unternehmens BioMarin die Empfehlung für eine bedingte Zulassung zur Behandlung von Erwachsenen mit schwerer Hämophilie A ausgesprochen. Die Empfehlung des CAT wurde vom Ausschuss für Humanarzneimittel (Committee for Medicinal Products for Human Use, CHMP) bestätigt. Es handelt sich um das erste Gentherapeutikum zur Behandlung der Hämophilie A, für das in der EU eine Zulassungsempfehlung ausgesprochen wird. Die finale Entscheidung für eine Zulassung hat die Europäische Kommission am 24.08.2022 getroffen.

Schätzungsweise 1 von 6.000 Männern von Hämophilie A betroffen

Die Hämophilie A ist die häufigste Form der sogenannten Bluterkrankheit und tritt aufgrund der zugrundeliegenden Genetik fast ausschließlich bei Männern auf. Weil das Faktor-VIII-Gen bei Betroffenen defekt ist, kann kein funktionsfähiges Faktor-VIII-Protein gebildet werden. Die Häufigkeit wird im männlichen Geschlecht auf etwa 1:6.000 Personen geschätzt. Die Behandlung besteht bisher in der Substitution (dem Ersatz) des fehlenden Gerinnungsfaktors VIII, was lebenslange Injektionen erforderlich macht.

Fehlendes Faktor-VIII-Gen wird in die Leberzellen transportiert

Roctavian (Valoctocogene Roxaparvovec) ist die erste Gentherapie zur Behandlung der Hämophilie in der EU-Zulassung. Der Wirkstoff in Roctavian ist ein AAV-Vektor (vermehrungsunfähiges Adeno-assoziiertes Virus), das sich im Menschen nicht vermehrt und das Gen mit dem Bauplan für die Bildung des Faktor-VIII-Proteins auf einige wenige Körperzellen überträgt. Die Gentherapie zielt darauf ab, nach einmaliger intravenöser Gabe das Faktor-VIII-Gen in einige Leberzellen eines Patienten einzubringen, um so eine funktionsfähige Kopie des Gerinnungsfaktors zur Verfügung zu stellen. Dies trägt dazu bei, dass Blutungen verhindert oder Blutungsepisoden verringert werden.

Anwendung bei Patienten mit schwerer Hämophilie A

Das vom CAT empfohlene Anwendungsgebiet ist die Behandlung von Patienten mit schwerer Hämophilie A, die keine Faktor-VIII-Hemmkörper aufgrund bisheriger Faktor-VIII-Substitutionstherapie haben und keine Antikörper gegen AAV des Serotyps 5 haben, zu dem der in der Gentherapie verwendete AAV-Vektor gehört. Es ist noch nicht bekannt, wie lange der Behandlungseffekt bei einem einzelnen Patienten anhalten wird. Allerdings wurde bei der Mehrzahl der 134 in der Phase-3-Prüfung behandelten Patienten zwei Jahre nach Gentherapie eine deutliche Verringerung der Blutungen und des Verbrauchs von Gerinnungsfaktoren im Vergleich zum Vorbehandlungszeitraum beobachtet. Bei einigen Patienten wurde im Rahmen der klinischen Prüfung ein positiver Behandlungseffekt von bis zu fünf Jahren nach einer einzigen Infusion festgestellt.

Die Zulassungsempfehlung des CAT stützt sich auf die Ergebnisse einer einarmigen, nicht randomisierten Phase-3-Prüfung an 134 männlichen Patienten mit Hämophilie A ohne Faktor-VIII-Inhibitor in der Vorgeschichte und ohne Antikörper gegen AAV 5. Zwei Jahre nach der Verabreichung zeigten die Wirksamkeitsdaten, dass es bei der Mehrzahl der Patienten nach intravenöser Vektor-Infusion zu einem Anstieg des Faktor-VIII-Spiegels im Blut kam. Die Blutungsraten gingen um 85 % zurück und die meisten Patienten (128) benötigten keine Faktor-VIII-Ersatztherapie mehr.

Eine Erhöhung der Leberwerte ist eine aus klinischen Studien bekannte häufige Nebenwirkung von AAV-basierten Gentherapien. Ein Anstieg des Leberenzyms Alanin-Aminotransferase (ALT) zeigt eine beginnende Leberschädigung an und wurde nach Infusion von Roctavian beobachtet. Sie kann erfolgreich mit Kortikosteroiden behandelt werden. Patienten mit Lebererkrankungen sollen nicht mit Roctavian behandelt werden. Weitere häufige und vorübergehende Nebenwirkungen sind Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen und Übelkeit. Um beurteilen zu können, wie lange die Wirkung der Gentherapie anhält und ob zusätzliche unerwünschte Wirkungen auftreten, hat der CAT eine Nachbeobachtung der Patienten über 15 Jahre festgelegt.

Hintergrund – Bedingte Zulassung

Wenn das klinische Datenpaket nicht als vollständig (comprehensive) betrachtet wird, diese Daten aber nach Zulassung komplettiert werden können, ist die bedingte Zulassung (Conditional Marketing Authorisation, CMA) eine Möglichkeit, bei einem medizinisch dringend benötigten Arzneimittel den Marktzugang zu erlauben. Der europäische Rechtsrahmen sieht die Möglichkeit der bedingten Zulassung für Arzneimittel vor, wenn ein ungedeckter medizinischer Bedarf (unmet medical need) besteht, der durch das neu zugelassene Arzneimittel gedeckt wird, es um die Behandlung oder Vorbeugung von lebensbedrohlichen oder stark beeinträchtigenden Krankheiten geht und die sofortige Verfügbarkeit des Arzneimittels das Risiko aufwiegt, dass aufgrund fehlender Teilinformation zum Zeitpunkt der bedingten Zulassung bestehen könnte. Hierbei muss sichergestellt sein, dass der Antragsteller in der Nachzulassungsphase zusätzliche Daten vorlegen kann, die geeignet sind, die bisher als unvollständig (non-comprehensive) erachteten klinischen Daten zu ergänzen, um die bedingte in eine volle Zulassung zu überführen.

Hintergrund – CAT

Der CAT bei der EMA beurteilt die Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimitteln für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products, ATMPs). Der Ausschuss setzt sich aus Expertinnen und Experten der EU-Mitgliedstaaten auf dem Feld der ATMPs – also Gentherapeutika, Zelltherapeutika und biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte – zusammen. Das Paul-Ehrlich-Institut ist Mitglied im CAT und mit Dr. Jan Müller-Berghaus, seinem Stellvertreter Dr. Egbert Flory sowie mit Dr. Martina Schüßler-Lenz als Vorsitzende des CAT vertreten.

Weitere Informationen

Quelle: Meldung des Paul-Ehrlich-Instituts

Lesen Sie hierzu auch die Meldung des Ärzteblatts.

 

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