Allgemeine Informationen
Auf diesen Seiten möchten wir Sie über neue Möglichkeiten der Hämophilie-Therapie informieren. In den letzten Jahren hat sich in diesem Bereich unglaublich viel getan, was einerseits zu Euphorie, andererseits aber auch zu Verunsicherungen geführt hat.
Wir möchten Ihnen hierzu möglichst umfassende und verständliche Informationen bieten.
Melden Sie sich gerne bei uns, wenn Sie Fragen haben. Bei Fragen zu Ihrer persönlichen Therapie wenden Sie sich bitte an Ihren behandelnden Arzt.
Weitere Informationen über neue Behandlungsmöglichkeiten finden Sie auch in den "Novel Treatment Products Newsletter" (auf Englisch), die vom Europäischen Hämophiliekonsortium (EHC) erstellt wurden.
- „Novel treatments in haemophilia and other bleeding disorders“, Mai 2018
- „Novel treatments in haemophilia and other bleeding disorders“, Februar 2019
- „Novel treatments in haemophilia and other bleeding disorders“, September 2019
- „Novel treatments in haemophilia and other bleeding disorders“, Juni 2020
- „Novel treatments in haemophilia and other bleeding disorders“, November 2020
- „Novel treatments in haemophilia and other bleeding disorders“, Juni 2021
- „Novel treatments in haemophilia and other bleeding disorders“, November 2021
- „Novel treatments in haemophilia and other bleeding disorders“, Mai 2022
EHL-Produkte: Faktorenkonzentrate mit verlängerter Halbwertszeit
Wiederkehrende Gelenkblutungen führen zur Schädigung der Gelenke und zur Entwicklung der hämophilen Arthropathie. Zur Vermeidung von Blutungen und den sich daraus entwickelnden Folgeschäden ist die Prophylaxe mit Faktorenkonzentraten bei schwerer, zum Teil auch bei mittelschwerer Hämophilie A und B Therapiestandard. In zahlreichen Studien konnte gezeigt werden, dass durch eine frühzeitig begonnene Prophylaxe (primäre Prophylaxe) Gelenkschäden weitestgehend verhindert werden konnten. Kann die Prophylaxe erst bei bereits manifesten Gelenkschäden begonnen werden, ist das Ziel, die Blutungsfrequenz zu verringern und die Lebensqualität der Patienten zu verbessern.
In den letzten Jahrzehnten haben sich sowohl plasmatische als auch rekombinante (gentechnologisch) hergestellte Faktorenkonzentrate weiterentwickelt, d.h. sie sind sicherer betreffend einer möglichen Übertragung von Viren und auch anwenderfreundlicher geworden (geringeres Volumen, größere Faktorenmenge pro Fläschchen). Dennoch bedeutet die regelmäßige, mehrfach wöchentliche venöse Punktion eine große Belastung für viele Patienten. Einige Patienten bluten zudem auch noch trotz intensiver Prophylaxe und benötigen höhere Faktorenspiegel im Blut. Neuere Studien zeigen, dass ein Faktor VIII- oder IX-Talspiegel von 1% nicht ausreichend zu sein scheint. Dies trifft auch für die Prävention sogenannter Mikroblutungen (kleinste Blutungen in der Gelenkschleimhaut) zu, so dass heutzutage eher höhere Talspiegel (>3%) bei vielen Patienten angestrebt werden.
In den letzten Jahren wurden Faktorenkonzentrate entwickelt, bei denen durch verschiedene Technologien die Halbwertszeit verlängert werden konnte, sogenannte EHL (Extended-Half-Life, englisch Halbwertszeit)-Faktorenkonzentrate. Eine Halbwertszeitverlängerung ist Voraussetzung, um dem Patienten längere Applikationsintervalle und/oder höhere Faktortalspiegel im Rahmen der Prophylaxe bei Hämophilie zu ermöglichen.
Was bedeutet Halbwertszeit?
Die biologische Halbwertszeit ist die Zeit, die der Körper braucht, um die zugeführte Menge eines Stoffes (hier Faktorenkonzentrat) auf die Hälfte wieder abzubauen. Dieser Abbau ist ein natürlicher Vorgang.
Die Faktor-VIII-Halbwertszeit beträgt 8-12 Stunden und ist vom Alter und der Blutgruppe abhängig. Die Faktor IX-Halbwertszeit beträgt ca. 18 Stunden. Hierdurch ergeben sich die klassischen Prophylaxeregime mit FVIII- bzw. FIX-Konzentraten mit Standardhalbwertszeit (plasmatische Faktor-VIII- bzw. IX-Konzentrate, klassische rekombinante Faktor IX- oder FVIII-Konzentrate), die üblicherweise 3x wöchentlich bzw. alle 2 Tage bei der Hämophilie A und 2 x wöchentlich oder alle 3 Tage bei der Hämophilie B durchgeführt werden.
Die Halbwertszeit kann individuell sehr verschieden sein und hat damit Einfluss, wie oft und wie viel sich ein Patient zur Prophylaxe spritzen muss. Das Prophylaxeregime wird natürlich nicht alleine durch die Halbwertszeit bestimmt. Weitere wichtige Faktoren wie Gelenkstatus, Durchbruchsblutungen, körperliche Aktivität, Venenstatus und persönliche Erwartungen spielen bei der individuell gestalteten Prophylaxe ebenfalls eine große Rolle.
Welche EHL-Faktorenkonzentrate gibt es und wie wird deren Halbwertszeit verlängert?
FVIII-EHL-Konzentrate
Es gibt aktuell 5 zugelassene FVIII-EHL-Konzentrate, bei denen durch verschiedene Technologien eine Verlängerung der Halbwertszeit auf das 1,2-1,9-Fache erzielt werden konnte (s. Tabelle 1). Weitere Konzentrate befinden sich noch in der Entwicklung (klinische Studien).
Bei Elocta® (Sobi) handelt es sich um ein sog. Fusionsprotein. Hier wird ein rekombinantes FVIII-Molekül mit einem rekombinant hergestellten Teil eines Immunglobulins G (IgG), dem Fc-Teil, verschmolzen. Da das Fc-Teil des IgG eine wesentlich längere Halbwertszeit als FVIII hat, wird die Halbwertszeit von FVIII verlängert. FVIII und auch das Fc-Teil werden vom Körper problemlos abgebaut.
Bei Adynovi® (Shire), Jivi® (Bayer) und Esperoct® (Novo Nordisk) erfolgt die Halbwertszeitverlängerung durch eine PEGylierung von rFVIII. PEG (Polyethylenglycol)-Moleküle gibt es in unterschiedlichen Größen.
Durch die PEGylierung wird das FVIII-Molekül vor vorzeitigem Abbau geschützt. PEG wird im Körper nicht abgebaut und wird unverändert über die Niere oder Leber ausgeschieden. Im Rahmen der Anwendung mit Gerinnungskonzentraten wurde in Studien keine Akkumulation über die Zeit beobachtet, Selten kann es zu einer Unverträglichkeit von PEG kommen (PEG-Antikörper). Dieses Phänomen wird auch bei nicht an Hämophilie erkrankten Menschen beobachtet, da PEGylierung seit vielen Jahren zur Stabilisierung und Halbwertszeitverlängerung von Medikamenten, in der Kosmetik- und auch Lebensmittelindustrie eingesetzt wird. PEGylierte FVIII-Konzentrate sind innerhalb der Europäischen Union für Patienten über 12 Jahre zugelassen.
Die gerinnungsphysiologische Funktion von Faktor VIII wird durch die PEGylierung nicht beeinträchtigt.
Bei Adynovi® binden 20kDa-PEG-Moleküle kontrolliert an FVIII und verlängern so die Halbwertszeit von rFVIII.
Auch bei Jivi® (Bayer) erfolgt die Halbwertszeitverlängerung durch eine PEGylierung, in diesem Fall mit einem größeren, verzweigten 60 kDa-PEG-Molekül.
Bei Esperoct® (Novo Nordisk) erfolgt eine ortsspezifische Bindung von 40kDa-PEG-Molekülen an einem Aktivierungspeptid (Brückenprotein).
Bei Afstyla® (CSL Behring) verändert sich durch eine Veränderung der Gensequenz des FVIII die Bindung zwischen der schweren und leichten Kette des FVIII-Moleküls zum Einzelkettenmolekül. Dieses Molekül hat eine verstärkte Bindung an im Körper natürlich vorkommenden von-Willebrand-Faktor (vWF) und wird dadurch besser stabilisiert.
Bei den 5 zugelassenen EHL-FVIII-Konzentraten werden also unterschiedliche Technologien zur unterschiedlichen Verlängerung der Halbwertszeit angewandt.
Mit allen genannten Konzentraten konnten die Injektionsintervalle im Rahmen einer Prophylaxe verlängert werden, üblicherweise auf 2 x wöchentlich stattfindende Gaben, bei einzelnen Präparaten und Patienten auch auf bis zu 1 x wöchentliche Gaben. Alternativ kann auch der Talspiegel erhöht werden, wenn die übliche Injektionsfrequenz beibehalten wird. Alle Präparate sind gut verträglich und wirken außerhalb der Prophylaxe auch bei der Behandlung von Blutungen oder bei operativen Eingriffen ausgezeichnet.
FIX-EHL-Konzentrate
Bei den 3 zugelassenen FIX-EHL-Konzentraten konnte ebenfalls durch verschiedene Technologien eine Halbwertszeitverlängerung erzielt werden. Der Effekt ist jedoch im Vergleich zu den FVIII-EHL-Konzentraten wesentlich stärker, denn die Halbwertszeit ist bei den FIX-EHL-Konzentraten um das 3-5fache länger. Dies bietet einen großen Spielraum, was die Erhöhung des FIX-Talspiegels und die Senkung der Injektionsfrequenz bei der Prophylaxe und auch bei der Behandlung von Blutungen/operativen Eingriffen betrifft. Üblicherweise erfolgen die prophylaktischen Gaben nur noch 1mal wöchentlich, aber auch seltenere Gaben sind möglich.
Bei Alprolix® (Sobi) handelt es sich um ein sog. Fusionsprotein. Hier wird ein rekombinantes FIX-Molekül mit einem rekombinant hergestellten Teil eines Immunglobulins G (IgG), dem Fc-Teil, verschmolzen. Da das Fc-Teil des IgG eine wesentlich längere Halbwertszeit als FIX hat, wird die Halbwertszeit von FIX verlängert. FIX und auch das Fc-Teil werden vom Körper problemlos abgebaut.
Bei Idelvion® (CSL Behring) handelt es sich ebenfalls um ein sog. Fusionsprotein. Hier wird ein rekombinantes FIX-Molekül mit rekombinant hergestelltem Albumin verschmolzen. Albumin ist ein im Körper natürlich vorkommendes Eiweiß und hat eine deutlich längere Halbwertszeit als FIX, wodurch die Halbwertszeit von FIX verlängert wird. FIX und auch das rekombinante Albumin werden vom Körper problemlos abgebaut.
Bei Refixia® (NovoNordisk) erfolgt die Halbwertszeitverlängerung durch eine GlycoPEGylierung von rFIX. Es erfolgt eine ortsspezifische Bindung von 40kDa-PEG-Molekülen an einem Aktivierungspeptid (Brückenprotein). Durch die PEGylierung wird das FIX-Molekül vor vorzeitigem Abbau geschützt. Auch die Ausscheidung über die Niere wird so vermindert. Bei Verletzungen, wenn FIX benötigt wird, entweicht das Brückenprotein und rFIX kann wirken. Refixia® ist in der Europäischen Union für Patienten > 12 Jahre zugelassen.
Mit allen genannten Konzentraten können die Injektionsintervalle im Rahmen einer Prophylaxe, wie bereits erwähnt, deutlich verlängert werden (alle 1-3 Wochen) und parallel die FIX-Talspiegel zum Teil deutlich erhöht werden. Alle Präparate sind gut verträglich und wirken außerhalb der Prophylaxe auch bei der Behandlung von Blutungen oder bei operativen Eingriffen ausgezeichnet. Auch hier sind deutlich wenigere Injektionen erforderlich als unter Verwendung eines Standard-Faktor-IX-Konzentrates.
EHL-Faktorenkonzentrate in der klinischen Anwendung

Mahdi et al, BrJ Haematol 2015 ; 169: 768-76


Im Vergleich zu den Standardfaktorenkonzentraten werden EHL-Konzentrate üblicherweise weniger häufig gespritzt, um den gleichen Faktortalspiegel zu erreichen. Dies trifft insbesondere auf die FIX-Konzentrate zu. Allerdings gilt zu beachten, dass zum Ende des Injektionsintervalls, insbesondere wenn sehr große Injektionsintervalle gewählt werden, nicht mehr die gewohnten, häufigen Spitzenspiegel (wie mit Standardpräparaten ca. 3 x pro Woche) erreicht werden. Wird das Injektionsintervall zu sehr in die Länge gezogen, kann es aufgrund der nun niedrigen FVIII- bzw. FIX-Spiegel zu Blutungen kommen. Dies trifft auch insbesondere dann zu, wenn der Patient zu dieser Zeit körperlich aktiv ist (s. Abb 1).
Generell bieten EHL-Faktorenkonzentrate die Möglichkeit, eine Prophylaxetherapie vielseitig zu gestalten: Soll der Talspiegel im Vergleich zum Standardkonzentrat gleich gehalten werden, kann das Injektionsintervall verlängert und damit die Prophylaxe dem Patienten erleichtert werden (s. Abb. 2a). Allerdings gibt es auch Patienten, die einen höheren Talspiegel benötigen. Hier bietet sich die Möglichkeit, bei gleichbleibenden Injektionsintervallen (z.B. bei FVIII 3 x wöchentlich) auch höhere Talspiegel zu erreichen. (s. Abb. 2b).
Unter Verwendung von EHL-Faktor-IX-Konzentraten kann aufgrund der deutlichen Halbwertszeitverlängerung zum einen eine deutliche Verlängerung der Injektionsintervalle (bis zu 3 Wochen, je nach Präparat und persönlicher Situation) bei gleichzeitigem Anheben des FIX-Talspiegels erfolgen.
Gibt es Risiken bei einer Faktorumstellung?
Üblicherweise geht eine Faktorenumstellung mit keinen nennenswerten Risiken einher. Allerdings sollte die erste Gabe im Zentrum erfolgen, um u.a. auch die Verträglichkeit zu überprüfen. Bei Patienten, die niemals einen Hemmkörper entwickelt haben, ist das Risiko, nach Umstellung einen Hemmkörper zu entwickeln, sehr gering. Allerdings sollten die Patienten ausreichend häufig vorbehandelt sein, d.h. sie sollten mindestens 150mal mit Faktorenkonzentrat behandelt worden sein. Bei Patienten, die früher einen Hemmkörper entwickelten und eine erfolgreiche Immuntoleranztherapie hinter sich gebracht haben, gibt es nur wenig Erfahrung. Dies trifft auch auf Patienten zu, die erst sehr selten mit Faktorkonzentrat behandelt wurden. Grundsätzlich sollten Sie mit Ihrem Arzt über ihr individuelles Risiko und ihr Blutungsverhalten sprechen und einen Wechsel gemeinsam abwägen.
Wie erfolgt ein Präparatewechsel? Was muss man beachten?
Zunächst sollten Sie mit Ihrem Arzt klären, ob ein Präparatewechsel für Sie sinnvoll und risikoarm ist. Eine Frage, ob und welches Präparat für Sie am ehesten geeignet ist, entscheidet Ihr Arzt aufgrund Ihrer individuellen Situation (Blutungstyp, Halbwertszeit, venöse Situation, körperliche Aktivität, Gelenkstatus, Begleiterkrankungen uvm). Besprechen Sie mit Ihrem Arzt auch Ihre Erwartungen an das neue Medikament und Ihre Erwartungen an mögliche Änderungen des Therapieregimes.
Bei Umstellung sollte die erste Gabe im Zentrum erfolgen. Sinnvoll ist es, eine pharmakokinetische Untersuchung (Halbwertszeitbestimmung) durchzuführen. Daher werden Sie anfangs u.U. zu häufigeren Visiten (Faktorspiegelbestimmung, Hemmkörperbestimmung, Fragen zur Verträglichkeit/Ansprechen auf das neue Prophylaxeregime, schnelle Erfassung von eventuellen Durchbruchsblutungen) im Zentrum gebeten. Lassen Sie sich auch über andere Rekonstitutionssysteme (wie löst man den Faktor auf?) und Lagerungsmodalitäten unterrichten. Sie sollten mit Ihrem Arzt auch Dosierungen und Häufigkeit von Faktorgaben (Dosierungsabstände) im Blutungsfall absprechen. Achten Sie auch darauf, dass Ihr Notfallausweis sowie ggf. eine Zollbescheinigung aktualisiert wird.
Produkt | FVIII | Technologie zur Verlängerung der HWZ | HWZ-Verlängerung |
---|---|---|---|
Elocta® (Sobi) | rFVIII-FC, Efmoroctocog alfa | Fusionsprotein: rFVIII und Fc-Region von ImmunglobulinG (IgG) | 1,2 – 1,9 fach |
Adynovi® (Shire) | rFVIII-PEG, Rurioctocog alfa pegol | Chemische Modifikation: PEGylierung (20kDa) von FVIII | |
Jivi® (Bayer) | rFVIII-PEG, Damoctocog alfo pegol | Chemische Modifikation: PEGylierung (60kDa) von rFVIII | |
Esperoct® (Novo Nordisk) | Turoctocog alfa pegol | Chemische Modifikation: Glykopegylierung (40kDa-PEG-Moleküle) | |
Afstyla® (CSL Behring) | rFVIII, singel chain | Einzelketten-rFVIII-Molekül (Single chain rFVIII) |
Produkt | FIX | Technologie zur Verlängerung der HWZ | HWZ- Verlängerung |
---|---|---|---|
Alprolix® (Sobi) | rFIX-FC | Fusionsprotein: rFIX und Fc-Region von ImmunglobulinG (IgG) | 3-5 fach |
Idelvion® (CSL Behring) | Fusionsprotein: rAlbumin und rFIX | ||
ReFixia® (NovoNordisk) | N9-GP | Chemische Modifikation: Ortsspezifische GlykoPEGylierung (N9GP, 40 kDa) |
Dr. Carmen Escuriola-Ettingshausen
Behandlung der Hämophilie A mit Hemlibra® (Emicizumab)
Die Hämophilie A ist eine Blutgerinnungsstörung, bei der durch einen Mangel an Gerinnungsfaktor VIII vor allem Gelenk-, Muskel- und Weichteilblutungen auftreten. Die wiederholten Blutungen führen zur Zerstörung der Gelenke und langfristig durch Arthrose zur Körperbehinderung. Daher ist eines der wichtigsten Therapieziele in der Hämophilie-Behandlung, eine Blutungsfreiheit zu erreichen. Dies gelingt in der Regel durch eine individuell angepasste Prophylaxe mit Faktor VIII-Präparaten.
In den vergangenen Jahren kamen immer wieder neue Gerinnungspräparate zur Behandlung der Hämophilie A auf den Markt. Meist handelte es sich um gentechnisch hergestellte Faktor VIII-Konzentrate, von denen vor allem die neueren Präparate durch verschiedene Verfahren, wie z.B. Pegylierung oder Fusionierung mit einem Fc-Fragment, eine verlängerte Wirkdauer aufweisen.
Mit Emicizumab wurde ein komplett neues Arzneimittel entwickelt, das sich nicht nur durch eine andere Art der Spritze („unter die Haut“ statt „in die Vene“) von den klassischen Gerinnungsfaktoren unterscheidet, sondern die komplette Therapie revolutioniert.
Was ist Emicizumab?
Emicizumab ist kein Gerinnungsfaktor, sondern ein bispezifischer Antikörper. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um einen Faktor VIII-Antikörper, wie man fälschlicherweise annehmen könnte. Der Begriff Antikörper bezieht sich darauf, dass das Molekül Emicizumab ähnlich wie ein Schlüssel in ein Schlüsselloch passt, und statt das Signal zur „Türöffnung“ gibt Emicizumab nach Anbindung an die Gerinnungsfaktoren IXa und X das Signal zur Thrombinbildung. Das geschieht normalerweise beim Gesunden durch den ausreichend vorhandenen natürlichen Faktor VIII. Thrombin ist zur Blutstillung erforderlich.
Für welche Patienten ist Emicizumab zugelassen?
Da es sich bei Emicizumab nicht um einen Faktor VIII handelt, kann das Medikament insbesondere bei Patienten mit einem Faktor VIII-Hemmkörper zur Vorbeugung von Blutungen (Blutungsprophylaxe) eingesetzt werden. Emicizumab imitiert den Faktor VIII und ist somit auch bei Patienten mit einer Hämophilie A wirksam. Für beide Indikationen ist das Präparat seit 2018 in Deutschland zugelassen. Bisher dürfen nur Patienten mit einer schweren Hämophilie A (Faktor VIII-Restaktivität < 1%) mit Emicizumab behandelt werden.
Was ist ein Faktor VIII-Hemmkörper?
Hämophilie A Patienten, die einen Hemmkörper (Inhibitor) gegen Faktor VIII entwickeln, können nicht mehr mit einem klassischen Faktor VIII-Präparat behandelt werden, da der Faktor VIII vom Hemmkörper zerstört wird. Um Blutungen bei den betroffenen Patienten zu behandeln oder auch um Blutungen vorzubeugen, stehen die Medikamente Feiba® (aktivierter Prothrombinkomplex) und NovoSeven® (rekombinanter Faktor VIIa) als sogenannte „Bypassing-Agents“ (BPA) zur Verfügung. Obwohl diese Therapien grundsätzlich gut wirksam sind, wird bei einigen Patienten ein Wirkungsverlust des einen oder anderen Medikamentes beobachtet. Außerdem treten trotz regelmäßiger Anwendung sogenannte Durchbruchsblutungen auf. Durch die relativ kurze Halbwertszeit werden diese Präparate zur Prophylaxe täglich oder zumindest mehrmals wöchentlich intravenös (in die Vene) verabreicht.
Wie wirksam ist Emicizumab bei Patienten mit einem Faktor VIII-Inhibitor?
In der Zulassungsstudie Haven 1 wurde die Wirksamkeit von Emicizumab bei Jugendlichen ab 12 Jahre und bei Erwachsenen untersucht, die an einer Hämophilie A mit Faktor VIII-Hemmkörpern erkrankt waren. Es konnte gezeigt werden, dass in der Patientengruppe, die vorbeugend mit Emicizumab behandelt wurde, signifikant seltener Blutungen auftraten als bei denen, die keine Prophylaxe mit Emicizumab erhielten. Patienten mit Emicizumab-Prophylaxe hatten durchschnittlich 2,9 Blutungen im Jahr. In der Gruppe, die kein Emicizumab erhielten, und die nur bei Bedarf behandelt wurden, lag die jährlich Blutungsrate bei 23,3. Nach Studiendaten ist Emicizumab zudem in der Wirksamkeit als Blutungsprophylaxe den Medikamenten Feiba® und NovoSeven® („Bypassingagents“ = BPA) überlegen. Hier konnte im Vergleich eine Blutungsreduktion um 79% erreicht werden. Patienten, die mit Emicizumab behandelt wurden, hatten in 63% der Fälle während der Beobachtungszeit sogar überhaupt keine Blutungen mehr, wohingegen Patienten ohne Prophylaxe nur in 5,6% der Fälle blutungsfrei waren. Patienten, die eine Prophylaxe mit BPA (Feiba® oder NovoSeven®) erhielten, waren in 12,5% der Fälle blutungsfrei. In der Kinderstudie Haven 2 für Patienten ab 3 Jahren wurden ebenfalls nur noch geringe Blutungsraten beobachtet. 65% der Kinder waren blutungsfrei.
In der Haven 3-Studie wurden Patienten ab 12 Jahre mit Hämophilie A behandelt, die bisher keinen Hemmkörper entwickelten. Insgesamt wurden 152 Patienten untersucht. Die jährliche Blutungsrate lag bei den Patienten, die wöchentlich mit Emicizumab behandelt wurden, bei 1,5. Patienten, die alle 2 Wochen Emicizumab in der doppelten Dosis erhielten, hatte 1,3 Blutungen pro Jahr. Patienten in der Vergleichsgruppe ohne Prophylaxe bluteten durchschnittlich 38 mal im Jahr. Diese Patienten erhielten aber auch keine Faktor VIII-Prophylaxe.
Gab es Nebenwirkungen?
In der Erwachsenenstudie Haven 1, in der Patienten mit Hämophilie A und FVIII-Hemmkörper behandelt wurden, entwickelten zwei Patienten eine Thrombose und drei Patienten eine thrombotische Mikroangiopathie (TMA). Eine TMA ist eine schwerwiegende und möglicherweise lebensbedrohliche Erkrankung, bei der die Innenwand der Blutgefäße geschädigt ist und sich Blutgerinnsel in kleinen Blutgefäßen bilden können. Dies kann zur Schädigung der Nieren und/oder anderer Organe führen. In allen diesen Fällen war zusätzlich zu Emicizumab wegen einer Blutung Feiba® gegeben worden. Bei einer genaueren Analyse der Fälle stellte sich heraus, dass eine kurzfristige zusätzliche Behandlung mit Feiba® unproblematisch war, dass aber die Gabe hoher Dosen bzw. die Behandlung über einen längeren Zeitraum zu den genannten Problemen führte. Die in den Studien behandelten Patienten entwickelten keinen Hemmkörper gegen Emicizumab.
In der Haven 3-Studie, in der Patienten ohne Faktor VIII-Hemmkörper behandelt wurden, traten keine Thrombosen und keine Hemmkörper gegen den Faktor VIII auf.
Nach Markteinführung wurde weltweit inzwischen ein Hemmkörper gegen das Medikament Emicizumab gemeldet.
Wie wird Emicizumab verabreicht?
Während bisher bekannte Gerinnungsfaktoren in eine Vene gespritzt werden, wird Emicizumab unter die Haut (subcutan) ähnlich einer Heparin- oder Insulinspritze gegeben.
Wie oft muss Emicizumab gespritzt werden?
Emicizumab wird nach einer Aufsättigungsphase mit wöchentlichen Gaben dann üblicherweise in festen Intervallen gespritzt. Das Medikament kann einmal wöchentlich, ggf. aber auch nur alle 2 Wochen oder alle 4 Wochen verabreicht werden. Welches Schema gespritzt werden soll, entscheidet der Hämophilie-Arzt.
Nach einer Aufsättigungsphase erreicht der Patient ein Dauersignal zur Blutstillung. Ein solches Dauersignal kann durch eine klassische Prophylaxe mit einem Faktor VIII-Konzentrat, bzw. mit Feiba® oder NovoSeven® nicht erreicht werden, da diese Medikamente immer wieder innerhalb weniger Stunden oder Tage abgebaut werden.
Was ist, wenn man mit Emicizumab behandelt wird und operiert werden muss?
Es gibt erste Daten zur Durchführung von Operationen mit Emicizumab: 22 von 173 Studienpatienten aus den Haven 1- und Haven 2- Studien mussten operiert werden. Bei ihnen wurden insgesamt 29 Operationen, davon 6 Zahnextraktionen, 13 Katheter-Operationen und 10 weitere OPs durchgeführt. In 7 Fällen kam es zu postoperativen Nachblutungen, von denen 3 nicht weiter behandelt werden mussten und 4 mit NovoSeven® gestillt werden konnten.
In der Haven 3-Studie wurden 50 operative Eingriffe bei 30 Patienten durchgeführt, davon 46 kleinere Eingriffe. Nur bei 18 Patienten dieser 46 Patienten wurde zusätzlich Faktor VIII gespritzt. Bei 3 Patienten kam es zu unkomplizierten Nachblutungen. Bei 4 größeren orthopädischen chirurgischen Eingriffen wurde in allen Fällen zusätzlich Faktor VIII gespritzt. Diese Operationen konnten komplikationslos durchgeführt werden.
Ist Emicizumab auch bei anderen Gerinnungsstörungen wirksam?
Emicizumab ist bei Patienten mit Hämophilie B oder anderen Gerinnungsstörungen nicht wirksam.
Welche anderen Probleme könnten unter der Therapie mit Emicizumab auftreten?
Da die Substanz die Gerinnselbildung beeinflusst, sind viele Gerinnungsteste, die die Zeit bis zur Gerinnselbildung messen, nicht mehr verwertbar. Das betrifft unter anderem die aPTT, die klassische Faktor VIII-Bestimmung im Einstufentest, die Faktor-VIII-Hemmkörper-Messung und einige andere Teste. Ein Emicizumab-Spiegel kann in Speziallaboren gemessen werden. Patienten, die mit diesem Medikament behandelt werden, müssen daher einen speziellen Ausweis erhalten, und die Therapie muss engmaschig vom Hämophiliearzt überwacht werden.
Für welche Patienten ist Emicizumab geeignet?
Emicizumab kann aktuell bei Patienten mit einer schweren Hämophilie A verschrieben werden. Dieses Arzneimittel wird eingesetzt, um Blutungen zu vermeiden oder die Anzahl der Blutungsereignisse bei Patienten mit dieser Erkrankung zu verringern. Somit ist es möglicherweise vor allem bei Patienten mit vielen Blutungen eine gute Alternative zu der bisherigen Therapie. Emicizumab wird nicht angewendet, um ein Blutungsereignis zu behandeln. In diesen Fällen muss ggf. noch ein anderes Gerinnungspräparat zusätzlich gespritzt werden.
Emicizumab ist auch nicht dazu geeignet, einen Hemmkörper zu entfernen (eliminieren). Dies ist aber für alle Patienten wichtig, damit bei ihnen zukünftig auch eine Gentherapie durchgeführt werden kann. Durch eine Gentherapie wird vom Körper „eigener Faktor VIII“ hergestellt. Dieser „eigene Faktor VIII“ würde aber durch den Hemmkörper genauso zerstört, wie der Faktor VIII aus dem Präparat, wenn es nicht gelingt, den Hemmkörper vorher durch eine Immuntoleranztherapie zu eliminieren.
Dr. Cornelia Wermes
Gentherapie
Bei der Gentherapie der Hämophilie können nach einer einmaligen Infusion des Gentherapiekonstrukts teilweise langfristig erhöhte, sogar normalisierte Faktorspiegel erzielt werden, so dass auch nach Stopp der prophylaktischen Faktorsubstitution keine Blutungen mehr auftreten.
Eine häufige Nebenwirkung sind erhöhte Leberwerte, die mit einem Verlust der erhöhten Faktorspiegel einhergehen können. Zur frühzeitigen Diagnose und Behandlung ist daher in den ersten Monaten nach Gentherapie eine engmaschige Nachbeobachtung erforderlich.
Zur Gentherapie der Hämophilie A und Hämophilie B werden gegenwärtig Phase 3-Studien durchgeführt, ein erstes Präparat zur Therapie der schweren Hämophilie A ist seit August 2022 in der EU zugelassen.
Generell ist das Ziel der Gentherapie, genetisch bedingte Erkrankungen durch eine Korrektur des defekten Genes zu beheben. Vorzugsweise wird die Gentherapie bei monogenetischen Krankheiten angewendet, also Erkrankungen, die auf dem Defekt eines einzelnen Gens beruhen.
Dieses Ziel kann durch verschiedene Methoden erreicht werden:
- Gentransfer: Dies ist die klassische und am weitesten fortgeschrittene Form der Gentherapie. Die Erbinformation, ein funktionierendes Gen, wird in den Körper eingebracht, von wo aus der Gerinnungsfaktor produziert wird und wieder in die Blutbahn gelangt. Man kann zwischen einem Gentransfer in vivo (direkte Applikation in verschiedene Organsysteme) und ex vivo unterscheiden, z. B. bei der Korrektur von hämatopoetischen Stammzellen.
- Genkorrektur: Im Gegensatz zum Gentransfer erfolgt bei der Genkorrektur die Reparatur eines defekten Genabschnitts direkt in der Zelle durch gezielten, punktgenauen Austausch der fehlerhaften Gensequenz, z. B. mittels CRISPR-Cas9 (Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats). Dieser Mechanismus wurde zuerst bei Bakterien gefunden, die bestimmte Sequenzen im Virusgenom zerschneiden, um sich damit vor Viren zu schützen.
- Eine weitere Möglichkeit besteht in der Inaktivierung von Genen (sog. Gen-Silencing) durch Hemmung der Übertragung von genetischen Informationen. Bei Patienten mit Hämophilie A und B sowie auch bei Patienten mit Hemmkörpern befindet sich die subkutan zu verabreichende Substanz Fitusiran in klinischen Phase 3-Studien. Durch Ausschaltung der für Antithrombin kodierenden mRNA kommt es trotz Hämophilie zu einer ausreichenden Gerinnungsaktivierung, die u. a. durch die Thrombin-Generierung gemessen werden kann.
Bei der Gentherapie der Hämophilie handelt es sich um einen Gentransfer. Die Hämophilie bietet sehr gute Voraussetzungen, da es sich um eine monogenetische Erkrankung handelt und ein Ansprechen durch Laborbestimmung des Gerinnungsfaktors untersucht und auch in regelmäßigen Abständen kontrolliert werden kann.
Im Gegensatz zu anderen vererbbaren Erkrankungen, für die es gegenwärtig keine Therapie gibt, stehen für die Behandlung der Hämophilie jedoch mit der prophylaktischen Faktorsubstitution sowie der subkutanen Gabe eines bispezifischen Antikörpers bei der Hämophilie A langjährig bewährte und sichere Therapieverfahren zur Verfügung, die durch Einsatz langwirksamer Verfahren und evtl. nicht auf Faktorsubstitution basierender Medikamente weiter verbessert werden können.
Dies ist zu berücksichtigen, wenn die Gentherapie als eine mögliche, neue Behandlungsmethode für Patienten mit Hämophilie diskutiert wird.
Wie funktioniert die Gentherapie?
Nach einmaliger, ca. 30- bis 60-minütiger intravenöser Infusion des Genvektors beginnt die kontinuierliche Produktion des Gerinnungsfaktors in den Leberzellen, was in regelmäßigen Kontrollen der Faktoraktivität im Gerinnungslabor kontrolliert werden kann.
Das intravenös zu injizierende Gentherapie-Produkt besteht aus dem Gen für den Gerinnungsfaktor zusammen mit einem Vektor, in diesem Fall Adeno-assoziierten Viren (AAV). Die Vektoren enthalten zugleich die für die Expression des Gens in der Zielzelle notwendigen Kontrollelemente wie Promotor und Enhancer, die dafür verantwortlich sind, dass das Gen auch in die Leber gelangt. Dort wird es in die Leberzelle aufgenommen, und vom Zellkern aus wird die Synthese des Gerinnungsfaktors gesteuert.
Bei den AAV handelt es sich um rekombinant hergestellte, nicht-pathogene Viren, die eine Kapazität von 4,7kb haben, um ein Gen zu transportieren.
AAV werden als viraler Vektor in der Gentherapie verwendet, weil sie nicht mit Krankheiten assoziiert sind, sich das virale Erbgut nur selten unspezifisch in das Genom der Wirtszelle integriert und somit das Risiko für eine sog. Insertionsmutagenese und damit verbundene Komplikationen, wie Krebserkrankungen, als sehr gering eingeschätzt werden.
Für wen kommt die Gentherapie in Frage?
Gegenwärtig finden klinische Studien der Phase 1 bis 3 mit verschiedenen Genapplikationen für die Behandlung der Hämophilie A und Hämophilie B statt. Teilnehmen können erwachsene männliche Patienten mit schwerer Hämophilie A und B (und bei der Hämophilie B mit Faktorwerten bis < 2 %) ohne Entwicklung eines Hemmkörpers und ohne ausgeprägte Co-Morbidität. Bei dieser Leber-gerichteten Therapie spielt die Gesundheit der Leber vor und nach der Gentherapie eine wichtige Rolle. Vor Teilnahme wird auch geprüft, ob Antikörper gegen AAV vorliegen, da dies das Ansprechen auf die Gentherapie vermindern kann.
Aktuelle Studienergebnisse
Erstmalige, bahnbrechende Ergebnisse zur Gentherapie der Hämophilie B wurden in den Jahren 2011 und 2014 publiziert. Nach Verabreichung der Therapie zeigte sich auch Jahre danach ein konstant erhöhter FIX-Wert um 5% - 7%. Die Blutungsrate nahm um 90% ab, so dass ein Teil der Patienten die regelmäßige, prophylaktische Substitution mit einem Faktorkonzentrat einstellen konnte. Trotz sportlicher Aktivität sind bei diesen Patienten keine weiteren Blutungen aufgetreten.
Die Ergebnisse dieser Studie wurden im Wesentlichen durch eine weitere Studie bestätigt, die dasselbe Gen, jedoch andere AAV verwendet. Von 10 Patienten konnten 9 die prophylaktische Substitution mit einem Faktorkonzentrat beenden, und es zeigte sich ein deutlicher Rückgang der Blutungen. In den letzten 12 Monaten trat keine Gelenkeinblutung auf.
In weiteren Studien, die eine hoch effektive Variante des FIX (Padua-Variante) verwenden, konnte ein Anstieg der FIX-Aktivität auf im Durchschnitt über 30 % erzielt werden, was Schutz vor Blutungen auch bei Verletzung bietet, wodurch die Blutungsrate insgesamt deutlich reduziert werden konnte.
Kürzlich wurden auch erste Ergebnisse einer Phase 3-Studie zur Gentherapie der Hämophilie A veröffentlicht. Bereits nach wenigen Wochen konnte ein deutlicher Anstieg der FVIII-Aktivität im Mittel um 42 % erzielt werden. Teilweise wurden sogar Faktor VIII-Werte im Normbereich gemessen.
Eine häufige Nebenwirkung war eine entzündliche Reaktion der Leber mit Anstieg bestimmter Leberwerte, wie der GPT, wenn körpereigene Abwehrzellen Leberzellen angreifen, die das Virus aufgenommen haben. Dies hatte teilweise zu einer Reduktion des Faktorwertes geführt und konnte mit einer vorübergehenden, jedoch teilweise auch längeren Gabe von Cortison oder anderen Medikamenten behandelt werden.
Sehr selten traten Thrombosen auf, wohl auch bedingt durch den Einfluss deutlich erhöhter Faktorspiegel. Hemmkörper gegen den Gerinnungsfaktor wurden nicht festgestellt.
Bei insgesamt drei Studienpatienten traten Krebserkrankungen auf. Ein Zusammenhang mit der Gentherapie zeigte sich anhand von Untersuchungen des Tumorgewebes nicht. Für die Langzeitverfolgung der Daten zur Effektivität und Sicherheit sind Register geplant, wie z. B. von der WFH.
Im Folgenden sollen noch einige Fragen beantwortet werden.
Wie lange wirkt die Gentherapie?
Das können nur Langzeitstudien zuverlässig belegen. Bislang sind konstante Faktorwerte bis zu 8 Jahren nach Gentherapie der Hämophilie B nachgewiesen. Zur Gentherapie der Hämophilie A existieren Daten über einen Zeitraum von über 6 Jahren. Hierbei zeigt sich jedoch ein schrittweiser Abfall der Faktor VIII-Aktivität.
Welche Anforderungen bestehen an das Hämophiliezentrum?
Nach eventueller Zulassung der Gentherapie wird es vermutlich Hämophiliezentren geben, die bereits in Studien Erfahrung gesammelt haben und die ambulante Durchführung der Gentherapie anbieten können.
In diesem Zusammenhang ist eine enge Kooperation der beteiligten Hämophiliezentren an der Indikationsstellung, Vorbereitung und der Nachbeobachtung erforderlich. Hierfür wurde von einer Europäischen Fachgesellschaft (EAHAD) und der europäischen Patientenvereinigung (EHC) die Begriffe von „hub-and-spoke-Zentren“ gewählt. Hiermit werden die verschiedenen Kenntnisse und Erfahrungen der Hämophiliezentren in der Gentherapie genutzt, um auch die Behandlung von Patienten zu ermöglichen, die weiter entfernt wohnen.
Die Arbeitsgruppe Gentherapie der GTH hat den Einsatz von elektronischen Dokumentationsmitteln empfohlen, damit die Informationen zwischen allen Beteiligten ausgetauscht werden können.
Welche Nebenwirkungen können nach einer Gentherapie auftreten?
Eine mögliche Nebenwirkung der Gentherapie ist eine nicht vorhersagbare Erhöhung der Leberwerte und Transaminasen, hauptsächlich der GPT. Alle aufgetretenen Leberwerterhöhungen konnten bislang erfolgreich mit einer vorübergehenden, immunsuppressiven Therapie, z. B. mit Kortison, behandelt werden. Ursächlich sind unter anderem T-Zell-bedingte Immunabwehrreaktionen der Leber gegen den Vektor. Hemmkörper gegen Faktor VIII oder Faktor IX sind bislang nicht im Rahmen der Gentherapie aufgetreten.
Sehr selten traten Thrombosen auf, wohl auch bedingt durch den Einfluss deutlich erhöhter Faktorspiegel.
Langfristige Datenerhebungen dienen u.a. dazu, das theoretische Risiko einer Tumorentwicklung nach Gentherapie zu untersuchen.
Um Nebenwirkungen der Gentherapie so gering wie möglich zu halten, ist die genaue Beachtung der Ein- und Ausschlusskriterien wichtig sowie die enge Zusammenarbeit der Zentren miteinander.
Wirkt die Gentherapie für Kinder?
Für die Gentherapie bei Kindern sind andere Konzepte erforderlich, da sich die Leber im Kindesalter noch im Wachstum befindet und daher nicht von einem konstanten Ansprechen auszugehen ist. Diese Konzepte beruhen auf der Verwendung anderer Vektoren oder der sog. Genschere (CRISPR-Cas Technologie) und befinden sich noch in frühen Studien.
Prof. Dr. Wolfgang Miesbach, Universitätsklinikum Frankfurt
Das Europäische Hämophiliekonsortium (EHC) stellt auf seiner Homepage mehrere Informationsvideos rund um die Gentherapie bei Hämophilie zur Verfügung (auf Englisch).
Die Firma BioMarin hat eine Website mit vielen Infos über Gentherapie (allgemein sowie speziell bei Hämophilie) entwickelt.